Seltsame Pflanzen

Eine Pflanze hat einen Stiel,
Zweige, Blätter, Blüten.
Und das Wichtigste:
Eine Pflanze hat Wurzeln.
Die Wurzeln stecken tief in einem Stück Erde.

Ein Stück Erde.

Aber stell Dir vor:
Es gibt seltene Pflanzen
die ihre Wurzeln
zur gleichen Zeit
in zwei Stück Erde 
tief hineinsetzen.

In einem Stück Erde
ist eine dieser Pflanzen
geboren:
Die schöne Erde
der Kindheit.

Die Spiele, ihr Vulkan,
der See, die Freunde,
das Haus, die Liebe,
die Sonne des Südens,
der Regen am Fenster,
die Politik, die Diktatur,
die Angst, die Wut,
der Widerstand, der Knast.

Schwarz-weiß, schwarz-weiß,
ich kann nicht mehr,
ich kann nicht mehr,
ich muss weg...

Ein Sprung ins Leere.

In dem neuen Stück Erde
gibt es keine Vergangenheit,
die neue Erde ist fremd.
Die Pflanze ist seltsam
im Vergleich zu den anderen Pflanzen,
die Wurzeln haben.

Alle schauen unter die Erde:
Die neue Pflanze
erkennt man sofort,
weil sie keine 
Wurzeln hat.

Zwischen den zwei
Stücken Erde
liegt das große Meer.
Die Rückkehr ist unmöglich,
hier zu bleiben
scheint auch
unmöglich:

Alle schauen ständig
unter die Erde
- keine Wurzeln -
und über der Erde
- diese Pflanze ist merkwürdig,
so anders,
sie gehört nicht
hierher -

Die Zeit vergeht.
Die neue Erde wird
vertrauter,
die Insekten,
die anderen Pflanzen,
dulden diese exotische Wesen
und so wird sie auch
gesehen:

Exotisch,
mit einem Hauch Ferne,
diesem ständigen Geruch
nach Heimweh
und immer mit dem Kopf
Richtung Süden.

Nach und nach
bekommt die Pflanze
einige Wurzeln.

Das zweite Stück Erde
bringt eine neue Kultur,
eine andere Sprache,
die Liebe, ein Kind,
die Politik,
das Fremdbleiben,
fremdbleiben
fremdbleiben.

Und die Sehnsucht.

Dies ist die Gegenwart
und schon ein Stück 
Vergangenheit,
sogar.

Es gibt seltene Pflanzen
die ihre Wurzeln
zur gleichen Zeit
in zwei Stück Erde
tief hineinsetzen.

Eine dieser Pflanzen
bin ich.

(Isabel Lipthay)

Aus dem Buch „Seltsame Pflanzen und andere Lebensbilder (Curiosas Plantas)“, erschienen im Unrast-Verlag, Münster, ISBN 3-928300-41-5

Isabel Lipthay wurde in Santiago de Chile geboren und verbrachte ihre Kindheit im Süden des Landes. Sie studierte Journalismus und Gesang und arbeitete im kulturellen Bereich für das Fernsehen, Radio und verschiedene Zeitschriften. Auf Grund der Militärdiktatur emigrierte sie 1983 in die BRD, wo sie zur Zeit lebt. Sie war Korrespondentin der oppositionellen Zeitschrift Análisis und hat u.a. für die taz, Lateinamerika Nachrichten, Ila, Ila Latina geschrieben. Sie spielt seit 1986 eigene und lateinamerikanische Musik mit dem Duo Contraviento. Ihr Buch Seltsame Pflanzen und andere Lebensbilder (Orig. Spanisch: Curiosas Plantas y otros sueños) erschien 1995 zweisprachig bei Unrast Verlag, Münster (2. Auflage, 1996). Im September 1998 erschien ihr zweites Buch ebenfalls zweisprachig: Die Begegnung (Spanisch: Aquel encuentro).
Isabel Lipthay ist Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller (VS) und ALA (Lateinamerikanische Autorinnen in Deutschland). 1997 bekam sie den Ersten Preis der 2. Münster'schen Literaturmeisterschaft. Sie hat Lesungen in Deutschland, Chile und der USA gehalten.

Nachdenkliches