Leichtigkeit

"Wenn sich jede Sekunde unseres Lebens
unendliche Male wiederholt,
sind wir an die Ewigkeit genagelt
wie Jesus Christus ans Kreuz.
Eine schreckliche Vorstellung.
In der Welt der Ewigen Wiederkehr
lastet auf jeder Geste
die Schwere einer unerträglichen Verantwortung.
Aus diesem Grund hat Nietzsche
den Gedanken der Ewigen Wiederkehr
'das schwerste Gewicht' genannt.
Wenn die Ewige Wiederkehr das schwerste Gewicht ist,
kann unser Leben vor diesem Hintergrund
in seiner ganzen herrlichen Leichtheit erscheinen.
Ist aber das Schwere wirklich schrecklich
und das Leichte herrlich?
Das schwerste Gewicht beugt uns nieder,
erdrückt uns, presst uns zu Boden.
In der Liebeslyrik aller Zeiten aber
sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers.
Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig
ein Bild intensivster Lebenserfüllung.
Je schwerer das Gewicht,
desto näher ist unser Leben der Erde,
desto wirklicher und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu
bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht,
daß der Mensch leichter wird als Luft,
daß er emporschwebt und sich von der Erde,
vom irdischen Sein entfernt,
daß er nur noch zur Hälfte wirklich ist
und seine Bewegungen ebenso frei
wie bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen?
Das Schwere oder das Leichte?
Parmenides hat sich diese Frage
im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt.
Er sah die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt:
Licht-Dunkel; Feinheit-Grobheit;
Wärme-Kälte; Sein-Nichtsein.
Er betrachtete den einen Pol
(Licht, Feinheit, Wärme, Sein) als positiv,
den anderen als negativ.
Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus,
bringt jedoch eine Schwierigkeit mit sich:
was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?
Parmenides antwortete:
das Leichte ist positiv,
das Schwere negativ.
Hatte er recht oder nicht?
Das ist die Frage.
Sicher ist nur eines:
der Gegensatz von leicht und schwer
ist der geheimnisvollste
und vieldeutigste aller Gegensätze."

aus: Milan Kundera,
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins,
Fischer Taschenbuch Verlag,
Frankfurt am Main, April 1987

 

Nachdenkliches