Als Karl König gegen Ende seines Lebens erkrankte, konnte er an einem bereits festgelegten Treffen mit den Eltern seelenpflegebedürftiger Kinder nicht mehr teilnehmen. Deshalb schrieb er ihnen den folgenden Brief:

 

Brachenreuthe, 1. Mai 1965

Liebe Eltern!  

Zum meinem großen Bedauern ist es mir leider nicht möglich, bei Ihrer Zusammenkunft persönlich anwesend zu sein, Sie zu begrüßen, mit Ihnen zu sprechen und auch etwas von meinen Gedanken und Empfindungen zu erzählen, die ich an einem solchen Tage hege.

Aber Sie werden mein Fernsein entschuldigen, wissend, dass ich im Augenblick krank bin und deshalb nicht zu Ihnen sprechen kann. Man kann das so schwer niederschreiben, was so gerne mündlich gesagt worden wäre, weil ja der menschliche Kontakt nicht da ist, der sonst den Sprecher trägt und fördert.

Was ich aussprechen wollte, wäre etwa das Folgende gewesen: dass Sie, als Eltern, doch versuchen sollten, sich immer mehr und mehr mit unserer Arbeit, die wir hier tun, zu verbinden. Nicht nur, weil wir sie für Ihre Kinder tun, sondern weil sie überhaupt geschieht. Denn im Zusammenhang mit behinderten, zurückgebliebenen und seelen-

Pflegebedürftigen Menschen entsteht ein neues Gleichnis wahrhaftiger Menschlichkeit.

Und es sind nicht die Lehrer, Pfleger, Helfer und Ärzte, die dieses Gleichnis schaffen; sie bemühen sich nur darum, es sichtbar zu machen, so dass es – mit Goethes Wort – ein offenbares Geheimnis wird. Wirklich aber schaffen es allein die Kinder, die Ihnen und uns anvertraut sind: Ihnen als Eltern und uns als Erzieher im weitesten Sinne.

Wir alle sollten immer mehr davon durchdrungen sein, dass diese Kinder unsere Lehrer sind; Lehrer in einem höheren Sinne. Denn sie haben ihr Schicksal – verkrümmt und verkrüppelt, verbildet und zurück zu sein – auf sich genommen. Sie klagen nicht und sind nicht mürrisch. Sie klagen auch nicht an und hadern nicht. Vielmehr nehmen sie ihr Anderssein auf sich, mutig wie einer sein Kreuz auf die Schulter nimmt, und sagen restlos JA dazu.

Wir sollten nicht glauben, dass sie nicht verstünden, wer und wie sie sind. Sie wissen es genau und bleiben dennoch mutig, froh und voller Hoffnung. Sollten wir uns nicht ein Beispiel an ihnen nehmen? Wir alle? Wer von uns lässt nicht öfter als unsere Kinder den Mut sinken und die Hoffnung fahren? In diesem Sinne meine ich, dass sie unsere Lehrer sind.

Aber auch noch in einem andern Sinne: Jedes unserer Kinder hilft mit, eine große Schlacht zu gewinnen, die seit Jahrtausenden von den Menschen geschlagen wird. Die gesamte Geschichte, in all ihren Leiden, Taten und Errungenschaften, ist Ausdruck dieses Kampfes:  Es ist der dauernde Kampf, den der Geist gegen die Not unseres Leibes zu führen hat. Jenes Leibes, der seit dem Sündenfall unsere Seelen verstrickt und von ihnen durchdrungen ist. Der in jedes Menschen aufleuchtende Geist seiner Individualität versucht immer neu, sich dem Griff der Sünde zu entziehen. Ist der Leib gesund, verfallen wir allzu leicht seinen Trieben, Begierden und Sehnsüchten. Ist er aber leidend und begresthaft, dann erinnert er uns an die Not und Mühe alles Daseins.

Das ist, was unsere Kinder uns dauernd vor Augen führen. Sie zeigen uns die andere Seite des Lebens, die ebenso notwendig und wichtig ist wie jene, in die wir tagtäglich verfallen sind. Auch darin sind unsere Kinder Lehrer. Sie helfen uns – durch ihren täglichen Anblick, durch ihre Not und Mühsal -, den Geistfunken unserer Seele wach zuhalten und das Öl in unseren Lampen nicht zu vergessen. Unsere Kinder sind nicht Krieger, sondern sanfte, aber stete Mahner in der großen Schlacht der Menschheitsgeschichte.

Was würden wir ohne sie tun? Käme nicht die ganze Menschheit aus ihrem sozialen Gleichgewicht, wenn nicht Leid und Schmerz, Anderssein und Sondersein stets vor uns hintreten würden? Nur Oberflächlinge können der Meinung sein, dass die Welt ohne Krankheit und Not bestehen sollte. Wäre das so, wie würden wir wissen, was Freude und Frohsinn ist? Ist nicht die alles durchwaltende Liebe beides: Schmerz und Freude?

Ist nicht Gnade beides: Anfechtung und Überwindung? Ist nicht der Glaube beides:

Zweifel und Seligkeit?

Dessen wollen wir uns in solchen Augenblicken erinnern; wollen ein volles ganzes JA zu unseren Kindern und ihrem und unserem Schicksal , zu dieser schweren Aufgabe sagen. Dieses JA erst gibt unseren Kindern den wahren Grund und Boden, auf dem sie stehen und leben können. Solch ein JA allein gibt ihnen die Festigkeit ihrer und unserer Existenz.

Denn dann erst bekräftigen wir das Wort, das Christus seinen Jüngern sagte, dass die nur selig sind, die da Leid tragen. Sie sollen getröstet werden, aber im  Trösten werden sie noch größeren Trost spenden.

Solche Gedanken können uns – Eltern und Erzieher – vereinen.

Unsere Kinder sind nicht nur da, dass wir ihnen helfen, sondern sie sind da, damit uns durch sie geholfen wird.

Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen; eine Kraft kann daraus entstehen, die heute so selten geworden ist, die wir alle zu verlieren scheinen und die doch so wichtig ist im menschlichen Zusammensein: Vertrauen.

Vertrauen in den anderen Menschen.

Vertrauen in die göttliche Welt.

Rudolf Steiner wurde einmal gefragt, was der heutigen Welt Not tut. Er antwortete: „Aus eigenem Vertrauen leben, ohne jede Daseinssicherung, aus dem Vertrauen in die immer gegenwärtige Hilfe der geistigen Welt.“

Das aber können wir täglich neu von unseren Kindern lernen, und wir wollen versuchen, es nicht mehr zu vergessen.

Das war es, was ich Ihnen, liebe Eltern, zum Gruß und zum Steuern Ihres Wirkens sagen wollte.

Ihr Dr. König

 

Quellennachweis:

„Wo ist mein Zuhause“
Autor: Alfred Heinrich

Verlag Freies Geistesleben, 1997 (396 Seiten)
ISBN: 3772516068


"KARL KÖNIG - Eine mitteleuropäische Biographie im 20. Jahrhundert"
Autor:  Hans Müller-Wiedemann
Verlag Freies Geistesleben, 1992 (Seite 476-478)
ISBN:   3772511538

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